Was ist für mich ‹Anblick – Zum Sehen geboren, zum Schauen bestellt›?
Im Anblick ist Augenblick und Angesicht. Wenn es mich nicht ansieht, gibt’s auch nichts zu sehen. Anblick ist ein Ereignis der Wahrnehmung und Innewerdung, wo Anblickender oder Anblickende und Angeblicktes sich nicht unterscheiden und doch als verschiedene aneinander teilnehmen. Es ist ein gemeinsamer Anfang, ein weckendes Aufmerken, ein starker Augenblick.
Bei Anblick denke ich an Goethe, den grossen Sehenden, an Martin Buber und seine qualitative Unterscheidung von beobachten, betrachten, innewerden, an Heinrich Barth und sein Konzept der Ästhetik mit Erscheinenlassen im Augenblick, an Peter Handke und sein Aufmerksamkeitsprojekt wie es sich in seinen Notizbüchern niederschlug, beispielsweise als: Vermeide das ‹Zuschauen› und schon gar das ‹Beobachten› – vielmehr: ‹Dabeisein›; ‹Teilnehmen›; ‹Teilhaben›.
Ich denke auch an die persische Legende vom Christus und den Jüngern beim Anblick eines Hundekadavers, Steiners bevorzugtes Beispiel für Positivität. Ich denke auch an das Bild vom Chor der Engelshierarchien, deren höchster Kreis im unvermittelten Anblick Gottes steht.
Zur Person
Ruedi Bind, geboren 1950 in Basel, lebt in Arlesheim (Schweiz), Autor von Kurzprosa und Minigeschichten, Gedichten, Theater- und Hörstücken, Filmkunststücken und Videopoems. Seit dem Besuch des Anthroposophisch-Naturwissenschaftlichen Studienjahrs am Goetheanum ein Amateurbotaniker mit pflanzensoziologischem Blick und Freund des Jahreslaufs. Bevorzugt kleine Gesprächs- und Lesearbeiten/Kolloquien, seit Jahren auch Musik-Improvisationen in kleinen Gruppen.