Was ist für mich ‹Anblick – Zum Sehen geboren, zum Schauen bestellt›?
Iris Hennigfeld
„Das Auge“, so schreibt Goethe im Vorwort der Farbenlehre, bildet sich „am Lichte fürs Licht, damit das innere Licht dem äußeren entgegentrete.“ Nur wenn inneres und äußeres Licht, „Ideenlicht“ und „Sinnenlicht“ (Hans-Christian Zehnter, Lichtmess) einander begegnen, kann die Welt zur Erscheinung kommen, kann „Phänomen“ werden. Wirklichkeit ereignet sich, der Mensch steht in der Wahrheit. Die erscheinende Welt wird im Erkennen nicht abgebildet und damit verdoppelt, sondern zu einer höheren Stufe ihres Daseins erweckt. Sie wird potenziert und geistig wiedergeboren. Wenn die Ideen oder Begriffe möglichst „rein“ gebildet werden und das Auge lernt, ungetrübt, frei von Vorurteilen, zu schauen, können sich die sichtbaren Dinge in ihrem wahren Wesen spiegeln. Hierzu bedarf es einer spezifischen Herangehensweise, die für mich im weitesten Sinne die Phänomenologie ist. Diese ermöglicht es, die Dinge in dem, was sie wirklich sind, zur Erscheinung zu bringen. Ein vollendetes Schauen wäre ein solches, in dem das Sehen, wie Maurice Merleau-Ponty schreibt, gleichsam „mitten aus den Dingen heraus“ geschähe, von dort herkäme, „wo ein Sichtbares sich anschickt zu sehen“. Im Schauen entäußert sich der Mensch und findet so erst ganz zu sich. Rudolf Steiner bezeichnete daher die Intuition als “Das Leben der Dinge in der Seele.” Die Frage nach dem Was der Wahrheit verwandelt sich also zur Frage nach dem Wer der Wahrheit. Für eine Wissenschaft des schauenden Bewusstseins bedeutete dies, eine solche Begegnung des Menschen mit der Welt philosophisch, in einer Begriffskunst, zu rechtfertigen.
Zur Person
Iris Hennigfeld, M.A.; Studium der Philosophie und der Neueren Deutschen Literaturgeschichte; 2009-2011 Goethe-Fellowhip an der McGill University; 2012 Forschungsaufenthalt am Phenomenology Research Center an der Southern University Carbondale/Illinois; 2013/14 Lehrauftrag an der Leuphana Universität Lüneburg; 2014-2019 Promotionsprojekt „Goethes Denken im Lichte der Phänomenologie Edmund Husserls“; Forschungsschwerpunkte: Philosophische Phänomenologie (Husserl, Heidegger, Merleau-Ponty), Erkenntnistheorie und Goetheanismus; Tätigkeit als Autorin und freischaffende Künstlerin.